Als Hebamme und Paartherapeutin ist mir sehr präsent, dass viele Frauen und ihre Partner vor dem ersten Geschlechtsverkehr mit Penetration nach der Geburt Respekt haben, ihn oft sogar hinauszögern. Oft wird nach Tipps zu „Sex nach der Geburt“ gegoogelt, denn den Universalbegriff „Sex“ auf Geschlechtsverkehr zwischen Frau und Mann zu reduzieren, ist leider immer noch sehr verbreitet. In diesem Ratgeber soll es jedoch genau darum gehen: Nämlich um den ersten Geschlechtsverkehr mit Penetration nach der Geburt – obwohl ich in dem Zusammenhang auch Tipps zu anderen sexuellen Aktivitäten nach der Geburt geben möchte.
Dieses erneute „Eindringen“ des Penis meist einige Wochen nach der Geburt ist für eine Frau oft wie „das zweite erste Mal“ oder wie eine Wiederholung der Defloration. Beide Partner sind unsicher, wie die Geburt sich auf den Sex auswirkt: Ob Schmerzen in der Scheide auftreten, was frau oder mann fühlt, ob Verhütung nötig ist, wenn ja, welche und vieles mehr.
Hilfe bietet ein Gespräch mit der nachsorgenden Hebamme. Ich habe bei jungen Eltern oft selbst den Impuls gegeben, über den ersten Sex nach der Geburt zu sprechen, denn häufig bestehen bei Frauen im Wochenbett und besonders bei ihren Männern Hemmungen, das Thema Sexualität, besonders Geschlechtsverkehr anzusprechen. Dabei ist gesunde Sexualität nach dem Wochenbett unabhängig von den sexuellen Praktiken wirklich wichtig für eine gesunde Beziehung zwischen Partner und Partner*in, weil sie sich auch auf das Kind bzw. die ganze Familie auswirkt. Und auch sehr wichtig für den Beckenboden, denn sexuelle Aktivität – unabhängig von den Praktiken – sorgt für die Rückbildung und damit für einen gesunden Beckenboden.
Inhaltsangabe:
Schwangerschaft und Geburt sind einschneidende Erlebnisse für Frauen - aber nicht zu vergessen auch für ihre Männer. Die Veränderungen erfolgen auf verschiedenen Ebenen:
Auch das sexuelle Erleben von Frauen (Bilder, Fantasien) kann sich nach Schwangerschaft und Geburt ändern: Neue Vorlieben im Sex können sich entwickeln, andere in den Hintergrund treten. Die Partner*innen sollten sich Zeit und Raum nehmen, offen darüber zu reden. Innerhalb einer Sexualberatung kann ich dir oder euch dabei helfen, eine gemeinsame, wirklich erfüllende Sexualität zu finden.
Während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett fahren die Hormone im Körper einer Frau Karussell, was natürlich enormen Einfluss auf ihre Psyche hat:
Während der Schwangerschaft wirken zunächst die Hormone Östrogen, hCG, hPL, Progesteron und Relaxin auf den Körper der Frau
Unter der Geburt dann Oxytocin, Adrenalin, Noradrenalin und Endorphine
Im Wochenbettweiterhin Oxytocin und das milchbildende Prolaktin.
Direkt nach der Geburt der Plazenta fallen die Schwangerschaftshormone rapide ab, während die Wochenbetthormone rasant ansteigen. Dieser rapide Wechsel bewirkt häufig eine emotionale Berg- und Talfahrt:
Eine junge Mutter empfindet eine Sensibilität und Dünnhäutigkeit, die oft Tränen oder Gereiztheit verursacht. Allerdings tragen diese Geburtshormone sie auch durch die Wochen nach der Geburt, den häufig entstehenden Schlafmangel und die noch bestehenden Schmerzen (Wundschmerz, empfindliche Brustwarzen vom Stillen, Nachwehen etc.). An dieser Stelle empfehle ich als Hebamme, die Gefühle zuzulassen, da unterdrückte Emotionen häufig zu Stagnation beim Milchfluss führen, die das Stillen behindern und den Wochenfluss beeinträchtigen.
Frauen im Wochenbett sind meist müde durch unterbrochene Nächte und körperlich mehr als gesättigt, weil sie sehr viel Nähe zu ihrem Baby haben. Dementsprechend haben sie kaum Lust auf sexuelle Aktivitäten, sondern sind sehr bedürftig nach „Me-time“, also Freizeit für sich allein, in der sie sich um niemand anderen kümmern als um sich selbst. Diese Pausen, in denen sie nicht für andere da sein und nicht die Bedürfnisse eines Babys oder anderer Menschen „stillen“ müssen, sind von der Natur vorgesehen zur wichtigen Regeneration.
Weitere Gründe für fehlende sexuelles Interesse:
Sie fühlt sich unattraktiv, denn ihr Körper hat vermutlich (trotz Sport) mehr Gewicht als vor der Schwangerschaft, ist weicher und hat eventuell Schwangerschaftsstreifen bekommen. Durch das Stillen können sich ihre Brüste noch ungewohnt anfühlen. Der Beckenboden ist schwach, es können Verletzungen der Scheide durch die Geburt entstanden sein und überhaupt ist die Geburt insgesamt noch nicht ganz verarbeitet worden.Und das Thema Verhütung steht ebenfalls noch im Raum…
Als Hebamme erlebe ich es als sehr normal und verständlich, dass die sonst so wichtige Sexualität die ersten Tage und Wochen nach einer Geburt, unabhängig von der Geburtsart, jetzt eine Zeitlang in den Hintergrund tritt, damit sich das bisher gelebte System „Paar“ in das System „Familie“ bzw „Eltern“ transformieren kann. Neue Verhaltensweisen müssen sich allmählich etablieren, das braucht Zeit und viel gegenseitiges Verständnis, der Sex ist nicht mehr so stark im Fokus. Der liegt jetzt nicht vorrangig auf der Paarbeziehung, sondern gilt dem Kind.
Rein biologisch im Sinne der Arterhaltung ist dieser archaische Vorgang einer der natürlichsten der Weltgeschichte, andererseits ist das Erlebnis des Mutter– oder Vater-Werdens, die Transformation von zwei Individuen zu Eltern, ein magisches und spirituelles Erlebnis.
Neben allem Verständnis für die Frau ist die Befindlichkeit des männlichen Partners ebenso wichtig: Es ist auch für ihn eine herausfordernde Lebensphase, in der von ihm Verständnis und Rücksicht erwartet wird. Sicherlich ist die junge Mutter oft müde und muss für das Baby da sein. Auf der anderen Seite erlebt sie viel Befriedigung dadurch, dass sie gebraucht wird, ihr Kind mit ihrer Milch beruhigen kann und viel körperliche Nähe hat. Es ist eine wirklich symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind. Diese elementare Form von Bedeutung für das Kind erlebt der Mann als Vater nicht, zumindest nicht für das Baby.
Gleichzeitig ist die Frau in ihrer Körperlichkeit ständig präsent. Häufig sieht er seine Partnerin ganz oder teilweise nackt, ihr prachtvolles Dekolleté oder sogar volle, pralle Brüste und Nippel. Sein sexueller Appetit wird ständig stimuliert, es kommt aber nicht zum Sex – nicht einfach zu nehmen.
Wenn nach und nach mehr Alltag eingekehrt ist, drängen die Themen Lust und Sexualität wieder in den Vordergrund. Ich kann nur empfehlen, aktiv damit umzugehen und alle Gedanken und vielleicht vorhandene Ängste offen miteinander zu besprechen. Sicherlich ist auch hier gegenseitiges Einfühlungsvermögen und Verständnis immens wichtig. Jede*r weiß, wie wohltuend es ist, sich gesehen und angenommen zu fühlen. So öffnet sich der Weg zu mehr Nähe und Intimität.
Wichtig ist es jetzt, auch wieder eine aktive Sexualität zu haben. Ihr seid jetzt Eltern, aber solltet auch das Thema „Erster Sex nach der Geburt“ nicht verdrängen oder immer weiter aufzuschieben.
Leider verharren manche Paare (zu lange) in der Abstinenz…
In diesem Fall stellt sich die Frage, ob es noch andere Probleme in der Beziehung gibt? Schon eine Stunde Paarberatung kann da sehr helfen.
Es gibt keinen definierten Zeitpunkt für den ersten Sex nach der Geburt, jedes Paar ist anders und kann seinen eigenen Weg finden. Penetration ist ja nicht der einzige Weg, wieder mit sexueller Aktivität anzufangen, dabei spielt der Beckenboden spielt dabei auch eine Rolle. Wenn es aber primär darum geht: Zirca 6 Wochen gilt als Regel, Sex vorher ist aber aus meiner Erfahrung auch absolut üblich. Ich empfehle dann zum Schutz der Mutter Geschlechtsverkehr mit Kondom, solange noch Wochenfluss fließt, um eine Infektion der Gebärmutter zu vermeiden.
Es ist durchaus möglich, dass eine Frau schon wenige Wochen nach der Geburt wieder schwanger werden kann! Die Sorge, durch mangelnde oder falsche Verhütung direkt wieder schwanger zu werden, ist wirklich ein Killer für die Lust! Verhütung ist also ein eminent wichtiges Thema. Auch dabei kann ich euch beraten.
Um (sexuelle) Frustration und Auseinandersetzungen zu vermeiden, empfehle ich euch als Paartherapeutin folgende Maßnahmen:
sind eminent wichtig, und nehmt es mit Humor, falls es nicht sofort wieder klappt. Der Beckenboden ist noch geschwächt, das Eindringen kann zunächst ein wenig unangenehm sein, auch die Angst vor Schmerz kann dabei ursächlich sein. Das heißt auch, wenn du, Mann, sehr heiß bist, könnt ihr in euer Liebesspiel eine vorherige Masturbation mit einbeziehen, damit du mehr Geduld hast. Anschließend versucht ihr vorsichtig das Eindringen – aber unbedingt mit einem guten Gleitmittel, denn die Hormone verhindern häufig bei Frauen, die noch stillen, das Feuchtwerden der Vagina.
Wie weit du, Frau, gehen willst, musst du natürlich entscheiden. Wenn Schmerzen in der Vagina entstehen, macht zumindest Geschlechtsverkehr (noch) keinen Sinn.
Auch das kann sein: Ihr versucht es und es geht „zu“ leicht! Der Beckenboden ist zwar nach der Geburt geschwächt - dagegen helfen unsere medizinischen Liebeskugeln hervorragend - aber die Vagina bleibt meist aufnahmefähiger als vor der Geburt. Der Mann fühlt sich manchmal mit dem Penis wie „verloren“ in der Scheide, das Gefühl beim Geschlechtsverkehr ist schwächer als gewohnt oder es entsteht fast kein Gefühl mehr. Das so genannte „Lost Penis Syndrom“, also mangelnden Kontakt von (zu) kleinem Penis in sehr aufnahmefähiger Scheide könnt ihr ebenfalls mit einer Viball in passender Größe beheben.
Wenn sich eure sexuellen Bedürfnisse und Vorlieben in der Zeit der Abstinenz geändert haben, müsst ihr unbedingt miteinander reden!
„Was sind deine geheimen Fantasien beim Sex? Welche Bilder siehst du dabei? Welche Rolle nimmst du / nehme ich dabei ein?“ usw. Das offen zu „beichten“, oder auch zu fragen ist nicht immer leicht. Manchmal hilft es schon, dabei den Augenkontakt zu vermeiden, z.B. spielerisch in einer Art „Verhörspiel“ mit verbundenen Augen, im Dunkeln, Rücken an Rücken oder in einer sehr innigen Umarmung.
Hier noch ein paar Tipps für ein konstruktives Gespräch:
Versucht grundsätzlich, wirklich ehrlich zu sein und euer wirkliches Bedürfnis zu formulieren, es nicht (aus Scham oder Rücksicht) abzuschwächen und nicht andere Gründe vorzuschieben, um Frustration loszuwerden.
Öffnet euch, bringt Verständnis für die Bedürfnisse von Partnerin / Partner auf, statt sie abzuwehren oder sie / ihn deswegen gar zu verurteilen.
Die Sexualität innerhalb des Familiensystems macht neue zeitliche Gewohnheiten notwendig, und das ist gut so: Organisiert eine regelmäßige Paarzeit für ungestörten, erfüllenden Sex. Bringt dafür euer Kind zu euren Eltern oder Freunden – wichtig! seid in eurem "Raum" unbedingt allein!
Ja, es ist möglich, Sex zu planen statt grundsätzlich auf Spontanität zu setzen und zu hoffen, dass sich dann auch eine Gelegenheit ergibt. Was oft zu Frust führt, weil das in der Familie eben selten der Fall ist. Also ist der Raum für "safer Sex", spontaner Sex bleibt ja darüberhinaus möglich.
Sexualität ist für die Partnerschaft wichtig, auch für „Mom and Dad“. Überlasst sie nicht dem Zufall, sondern gebt ihr innerhalb gemeinsam festgelegter Intervalle auch Priorität.
Erkundet eure Lust immer wieder: Mit Kreativität, Zeit und Humor. Der klassische Geschlechtsverkehr ist nicht die Krönung des Sex, sondern lediglich ein KANN und sowieso kein MUSS. Und die Rollen von Frau und Mann sind (auch) beim Sex nicht festgeschrieben: Weder ist das Eindringen in einen Körper nur dem Mann vorbehalten noch das penetriert werden nur der Frau. Und die Erfahrung „der anderen Seite“ schafft völlig neue Perspektiven, die weit über die sexuelle Lust hinausgehen und die ganze Persönlichkeit bereichern.
von Hera Schulte Westenberg August 28, 2024 4 min Lesezeit